Vom User zum Nachbarn

Grätzelimpulse aus dem Netz

Fragt man einen Wiener, was er mit dem 15. Bezirk verbindet, hört man meist: Arbeitslose, Ausländer, Prostituierte und fehlender Grünraum. Klischees bestimmen für gewöhnlich den Ruf eines Stadtteils. Stereotype helfen, die Komplexität von Orten zu reduzieren. Problematisch dabei ist, dass das Festhalten an diesen überkommenen Vorstellungen besonders widerstandsfähig gegenüber Veränderung sein kann. Einfache Narrative setzen sich leichter fest. Erzählungen werden zum Teil daraus gefüttert, was vor Ort geschieht, und zum Teil daraus, wie sich der Bezirk nach außen präsentiert. Zudem setzt sich in der räumlichen Imageforschung immer mehr die Auffassung durch, dass Mundpropaganda die wichtigste Kommunikationsform ist, die das Image von Dörfern, Städten und Nationen beeinflusst. Das, was wir Freunden über einen bestimmten Ort erzählen, kann sein Bild maßgeblich prägen.

Spezielle Social Media-Internetdienste scheinen das als Marktlücke erkannt zu haben. Sie setzen vor allem auf das Gemeinschaftsgefühl in der Nachbarschaft, um die Identifikation der Einzelnen mit ihrer Umgebung zu stärken. Der Zuwachs der User ist groß, wenngleich noch immer an der Datensicherung von sozialen Medien gezweifelt werden kann und Experten den Trend als stark rückläufig bezeichnen. Das Internetportal Nextdoor.com definiert sich seit 2010 als soziales Netzwerk für Nachbarschaft und wird von Kalifornien aus betrieben. Einmal mit echtem Namen und richtiger Adresse angemeldet, kann man mit bereits registrierten Usern aus der näheren räumlichen Wohnumgebung mit Anfragen, etwa nach einer helfenden Hund beim Ausmalen, einem Hundesitter, zum Haareschneiden oder einfach einer Einladung zum Grillen in der Nachbarschaft, in Kontakt treten. Auch die Relevanz von lokalen Ökonomien für den städtischen Raum scheint das Portal zu kennen. Auf einer ausgewiesenen Plattform werden Händler oder Dienstleister aus der Umgebung weiterempfohlen, wodurch kleine Läden im Grätzel gestärkt werden und weite Wege in andere Stadtgebiete erspart bleiben sollen.

     Everyblock.com, ein 2007 gegründeter Internetdienst aus Chicago, bietet darüber hinaus noch andere Services an. Neben dem nachbarschaftlichen Austausch im Social Media-Format wird hier vor allem auf Transparenz gesetzt. Die Plattform filtert aus freigeschalteten Datenbanken der städtischen Verwaltung Informationen über Baugenehmigungen und städtebauliche Projekte. Oder zeigt auf die Straße genau an, wo wann welche Straftaten geschehen sind, was bei der Wohnungssuche in Chicago nicht unerheblich ist. Der Onlinedienst erstellt für die Nachbarschaften sogar einen lokalen Medienspiegel. Everyblock erfreut sich einer derartigen Beliebtheit, dass das Service erst kürzlich zur Formierung einer Bürgerinitiative im New Yorker Stadtteil Harlem beigetragen hat. Jetzt werden bereits Computerkurse für benachteiligte Jugendliche oder freiwillige Parkreinigungstrupps über die Plattform organisiert.

     Auch in Wien wird diesen Herbst ein ähnliches Portal in einer Testversion starten: zoomsquare.com. Bewusst setzt diese einen Schritt weiter vorne an – bei der Wohnungssuche. Um Usern das stundenlange Durchforsten von Immobilienwebsites abzunehmen, kombiniert der Dienst Wohnungsangebote mit Social Media-Funktionen. Dabei können interessante Suchergebnisse gespeichert und gegenübergestellt, Bewertungen von ehemaligen Mietern gelesen und erste Kontakte zur Nachbarschaft aufgenommen werden. Andreas Langegger, Initiator des Projekts: „Durch Informationen aus erster Hand können sich User über die Lebensqualität im Viertel informieren und zukünftige Nachbarn kennenlernen.“ Im Fall des Zuzugs sollen sich die Nutzer mit diesen – ähnlich wie bei Nextdoor – zu beliebigen Themen austauschen können. Ob die Wiener Internetaffinität für eine weitere virtuelle Gemeinschaft ausreicht, wird von dem individuellen Interesse an der Umgebung und der Offenheit der Nachbarschaften abhängen. Was könnte der Anreiz sein, dieses Portal zu nützen? All diese Dienste drehen sich immer um die gleiche goldene Regel. Die geteilten Informationen müssen sowohl einen Ortsbezug aufweisen, als auch zeitgemäß sein. Genau in dieser Anforderung verbirgt sich die Innovation. Brüsten sich die restlichen sozialen Medien meist damit, sich über alle Gebote von Raum und Zeit hinwegsetzen zu können, möchten die beschriebenen Services eben auf diese Dimensionen bauen. Was zählt, ist nicht mehr, wie viele Freunde man in wie vielen verschiedenen Ländern hat, sondern womit und mit wem man sich in seiner Nachbarschaft identifizieren kann. Es scheint, als hätten die Dienste erkannt, was in der räumlichen Imageforschung schon länger belegt ist: Ein solide Gemeinschaft in der Nachbarschaft kann den Ruf eines Stadtteils grundlegend beeinflussen.

     Darüber, wohin die nachbarschaftliche Virtualisierung führt, kann bislang nur spekuliert werden. Wie bei allen Bewertungen und Rankings ist ihre Übereinstimmung mit der Realität mit Vorsicht zu genießen, weil oft sehr subjektiv. Dabei bleibt es fraglich, ob die top-gereihte Beurteilung auch die beste ist. Fest steht, dass die Dienste Instrumente mit knallhartem Kalkül bereitstellen, die dem Zufall wenig Platz einräumen.

     Für Stadtteile wie den 15. Wiener Gemeindebezirk bedeuten diese Portale eine neue Form der Imagebildung. Statt der üblichen Klischees könnte der Stadtteil in Zukunft für die nettesten Nachbarschaftsgrillereien, buntesten Käfigkickerln, sprießende Urban Gardening-Projekte und wöchentlich wechselnde Hinterhof-Flohmärkte stehen. Das Sorgenkind der Wiener Bezirke könnte dann schon bald den Wiener Stadtmarketingslogan für sich beanspruchen: „Rudolfsheim-Fünfhaus ist anders.“

Text: VALENTIN SCHIPFER

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